Jede/r ist eine Minderheit

Vom minoritär-werden im Kino
Zehn Jahre nach den größten Protestaktionen in der zweiten Republik gegen eine schwarzblaue Regierung stehen jetzt Wahlen in Wien bevor. Was einst vehement als rassistischer Ausnahmezustand angeprangert wurde, droht zusehens zur alpenrepublikanischen Normalität zu werden. Vor diesem ernüchternden Hintergrund versuchen wir, das befreiende Potential filmischer Arbeit jenseits von nationalen Grenzen und provinziell-reaktionärer Kulturpolitik wiederzufinden.

Elisabeth Streit, Peter Grabher, Tom Waibel (Publiziert in: STIMME von und für Minderheiten, Heft 73, Frühjahr 2010)

Konfrontiert mit der Anfrage über Minderheiten im Film zu schreiben, schlagen wir als strategische Maßnahme gegen vereinheitlichende Vorstellungen von Kino zunächst vor, das große und alles vergleichende Konzept „Film“ zu demontieren. Unsere Überlegungen tragen nicht dazu bei, die heterogene Vielfalt bewegter Bilder zugunsten möglichst geschlossener Blöcke einzuteilen oder zu bewerten. Ideen von Genre (Filme von, mit und für Minderheiten als eigene Gattungen, denen einschlägige Festivals gewidmet sind), Narration (als filmische Erzählungen, die denkbar präzise Aussagen ermöglichen sollen) und Nation (nach der es etwa dem österreichischen Film besser gehen soll, seit Michael Hanekes jüngste Produktion Das weiße Band mehrheitlich von Deutschland finanziert und als fremdsprachiger Film für den Auslands-Oscar nominiert wurde) verstellen den Blick auf eine entscheidende Erfahrung, die uns Filme ermöglichen. Bezeichnen wir diese Möglichkeit filmischer Erfahrung in Anlehnung an Félix Guattari als „kinematographische Performanz“(1), um eine Verschiebung unserer Überlegungen weg vom bewegten Bild hin zum bewegenden Bild vorzunehmen. Immer dann, wenn wir ins Kino gehen, um für eine gewisse Zeit die üblichen Kommunikationsweisen zu unterbrechen, räumen wir die Möglichkeit ein, durch das Filmschauen mit ungekannten Subjektivierungsformen zu experimentieren. In diesem Wagnis, neue Formen von Subjektivierung zuzulassen, Erkenntnismöglichkeiten zu verändern und Erfahrungshorizonte zu erweitern, eröffnet sich eine Gelegenheit minoritär zu werden, das Korsett zugeschriebener Identität zu sprengen und damit auch eine Möglichkeit von Solidarität, die das abgekartete Spiel von Ein- und Ausschluss durchkreuzt und die gesellschaftliche Festschreibung von Mehr- und Minderheitsverhältnissen aufbricht.

Unrechtsverhältnisse

Offensichtlich handelt es sich beim Verhältnis von Mehr- und Minderheit nicht einfach um den Ausdruck einer quantitativen Beziehung. Mehrheit definiert sich nicht darüber, dass sie einer simplen statistischen Feststellung zufolge eine größere Anzahl beschreibt, sondern vielmehr dadurch, dass sie sich als ein Herrschafts- und Rechtsverhältnis (präziser formuliert: Unrechtsverhältnis) hegemonial etabliert. Anders ausgedrückt: die Menge der Angehörigen so genannter Minderheiten stellen eine überwältigende Mehrheit fast überall auf der Welt und diese irritierende Tatsache zeigt sich nicht nur im Hinblick auf globale Migrationsverhältnisse, sondern spiegelt sich ebenso im Anblick lokaler Gegebenheiten wider. Wie ließen sich andernfalls so widersinnige Aussagen verstehen, die etwa über die Situation an Schulen in bestimmten Stadtteilen (ebenso in Wien wie anderswo) mit mehrheitlicher Selbstgewissheit davon sprechen, dass die Anzahl der SchülerInnen aus Minderheiten – seien diese als MigrantInnen, AusländerInnen, Nicht-Deutsch-Sprechende, etc. kategorisiert – mehr als 50 Prozent ausmachen?

Ein wirksames Werkzeug zur Herstellung von Mehr- und Minderheiten liegt in der gesellschaftlichen Konstruktion des Blicks und nicht zuletzt deshalb kommt dem Film in der Etablierung von Herrschaftsverhältnissen eine bedeutende Rolle zu. Frantz Fanon etwa weist in seiner Untersuchung „Schwarze Haut, weiße Masken“ eindrucksvoll nach, dass die Produktion eines Anderen keinesfalls auf dem „Fakt des Schwarzseins“(2) beruht, sondern fundamental auf der sozialen Sanktionierung des Sehens. Sehen wir im Folgenden wie diese Sanktionierung des Blicks in den Filmen von Claire Denis zugunsten von Subjektivierungsformen aufgebrochen wird, in der die durchaus körperliche Beunruhigung, die dem minoritär-werden innewohnt, gegen die gefühllose Selbstsicherheit eines immer schon majoritär-gewesen-seins in Anschlag gebracht wird.

Grenzüberschreitungen

Erstaunlicherweise liegen die Filme von Claire Denis quer zu den Begrifflichkeiten minoritär und majoritär. Wir könnten sie daher versuchsweise als eine post-postkoloniale Filmemacherin bezeichnen. Warum? Entlang ihrer Filme gedacht bedeutet bei Claire Denis minoritär-werden etwas durchaus Egalitäres – der Möglichkeit nach ist jede und jeder minoritär. Bildpolitisch gesprochen verhandelt sie solche Prozesse als Augenblicke, die über Blickwechsel und/oder Sprünge von Blickachsen funktionieren, sie bewegen sich nicht selten entlang von Körperlinien, verlagern sich in die Körper hinein und werden somit subkutan. Es sind solche Momente, die darüber entscheiden, wer sich innerhalb von Machtstrukturen oben oder unten positioniert. Da diese Machtverhältnisse bei ihr aber stets im Wandel begriffen sind, verschiebt sich oben und unten permanent: Claire Denis’ Filme verweigern sich dagegen, einen Status Quo festzuschreiben.

35 Rhums (F 2008) gibt ein überzeugendes Beispiel für einen angewandten, verinnerlichten Kolonialismus. In diesem Film spiegeln sich die Deformationen von Lionel und Joséphine (Vater und Tochter) in deren Sprachlosigkeit wider. „Aber bei den Recherchen zu diesem Film,“ erklärt Claire Denis in einem Interview, „durch das Lesen von Büchern, habe ich entdeckt, dass die Schwarzen in Paris, diejenigen aus der Karibik oder aus Afrika, die man nicht integrieren oder assimilieren muss – denn sie sind längst Franzosen –, dass die trotzdem an den Rand gedrängt und diskriminiert werden, obwohl sie Franzosen sind.“(3) Für die ProtagonistInnen ihres Films bedeutet dies etwa, dass die Tochter an den Thesen Frantz Fanons überhaupt nicht mehr interessiert ist und der Vater alles aus seinem Leben verbannt, um ausschließlich für seine Tochter da sein zu können.

In White Material (F 2009) funktioniert die Strategie der Blicke auf andere Weise: Marie Vial ist eine Kaffeeplantagenbesitzerin, die nicht wahrhaben will, dass ein nicht näher genanntes afrikanisches Land im Bürgerkrieg versinkt. Sie arbeitet gemeinsam mit schwarzen ErntehelferInnen hart daran, ihre Existenz aufrechterhalten zu können. Für den Blick der ZuseherInnen verschmilzt die Protagonistin mit ihren rotblonden Haaren stets erneut mit dem Gelbrot der Filmlandschaft. Dadurch wird sie zum Zeichen einer Sehnsucht, eins mit jenem Land zu werden, dem sie nicht zugehört. Allerdings besteht ihr minoritär-werden überraschenderweise darin, dass Marie, die doch die Freiheit hat, auszuwählen wohin sie geht, sich entscheidet, freiwillig zu bleiben. Marie gibt ihre sture Haltung nicht auf und geht im Gegensatz zur schwarzen Bevölkerung aus den Konflikten immer wieder unversehrt hervor. Sie wird zu einer nahezu traumwandlerischen Figur, die in den Kriegswirren eine fast unbeteiligte Außenseiterinnenposition beziehen kann. Parallel dazu erzählt der Film in komplexen Bildern über ein vom Kolonialismus korrumpiertes und zerrüttetes Land, in dem die Revolution ihre eigenen Kinder frisst und tritt damit auch in einen filmischen Dialog mit Les Maîtres Fous (F 1954) von Jean Rouch.

Machtverhältnisse

Die Konstruktion von Minderheiten durch den angeblichen Augenschein ist nicht mehr als ein Mittel zur Etablierung von Herrschaftsverhältnissen und erklärt nichts, daher bleiben Sehen und Gesehen-Werden heiß umkämpfte, gesellschaftlich relevante Praktiken. Doch die Erkenntnis des Betrügerischen in der Indienstnahme des Blicks zur Etablierung hegemonialer Verhältnisse allein genügt nicht, um diese zu verändern. Bel Hooks erinnert uns daran: „Doch es bleibt die Tatsache, dass ein Mann, (...) der in Mississippi oder Zatembe gelyncht wird, weil er schwarz ist, unter der unbestreitbaren Wirklichkeit dieses Mittels leidet: Er wird dadurch unterworfen, und es ist sinnlos, so zu tun, als existierte es nicht - nur weil es eine Lüge ist.“(4) In diesem Sinn beschreibt das minoritär-werden weniger den Exodus aus Machtverhältnissen, als vielmehr deren Subversion und Veränderung. Aber Vorsicht: die Möglichkeit kinematographischer Performanz ist eng mit unseren Haltungen als ZuseherInnen verknüpft. Darüber hinaus gilt noch immer, was Mikel Dufrenne über Film festgestellt hat: „Man bietet euch schöne Bilder an, aber um Euch zu ködern: in der gleichen Zeit, da Ihr glaubt, etwas zu genießen, absorbiert Ihr die zur Reproduktion der Produktionsverhältnisse notwendige Ideologie.“(5)

Anmerkungen
(1) Félix Guattari, Die Couch des Armen, in: ders.: Mikro-Politik des Wunsches, Berlin 1977.
(2) Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, New York 1967.
(3) Vgl.: http://www.artechock.de/film/text/interview/d/denis_2009.html
(4) Bell Hooks, Black Looks: Popkultur - Medien - Rassismus, Berlin 1994.
(5) Mikel Dufrenne: Cinéma, théories, lectures, Paris 1973.


Elisabeth Streit ist Filmwissenschafterin und Bibliothekarin im Österreichischen Filmmuseum.
Peter Grabher ist Historiker und derzeit Fellow am Initiativkolleg „Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung“.
Tom Waibel ist Philosoph und arbeitet an der Schnittstelle von politischer Theorie, postkolonialer Kritik, Migration und Globalisierung.
Alle drei betätigen sich bei Kinoki, Verein zur audiovisuellen Selbstbestimmung.

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"Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen." Michel Foucault