In allen Teilen von Ulrich Seidls
Paradies-Trilogie stehen Frauen im Zentrum. In „Paradies:
Hoffnung“, der jetzt ins Kino kommt, ist es die13-jährige
Melanie. Obwohl auch sie ihr Paradies nicht finden wird, bleibt sie
die am positivsten aufgeladene Figur im Seidlschen Universum bislang.
Elisabeth Streit sprach mit Seidls Co-Autorin Veronika
Franz.
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„Paradies: Hoffnung“
war immer als eine Gegen-Lolita-Geschichte angelegt.
Das Leben noch vor sich
„Paradies: Liebe“ zeigt eine
50-jährige Wienerin, die als Sextouristin nach Kenia reist;
„Paradies: Glaube“ erzählt von einer missionarischen Katholikin.
Der letzte Teil der Trilogie, „Paradies: Hoffnung“, spielt unter
Jugendlichen in einem Diät-Camp, im dem sich die Hauptfigur Melanie
(die Tochter der weiblichen Hauptfigur aus „Paradies: Liebe“) in
den deutlich älteren ärztlichen Leiter des Camps verliebt.
Wie korrespondiert die Hauptfigur Melanie aus diesem
letzten Teil der Trilogie mit den zwei Frauen aus den vorangegangen
beiden Filmen?
Veronika Franz: Melanie steht
für einen Aufbruch. Sie steht am Anfang ihres Lebens, mit all ihrer
Unschuld. Die beiden anderen Frauen stehen für gelebtes Leben. Sie
leben ihr als Tante und Mutter vor, wie ihr Leben möglicherweise in
zwanzig bis dreißig Jahren ausschauen könnte. Es geht auch um
Erlebnisse und Modelle, mit denen die Erwachsenen ringen. „Paradies:
Hoffnung“ war immer als eine Gegen-Lolita-Geschichte angelegt [Der Roman „Lolita“ von Vladimir Nabokov (1955) wurde 1962 von Stanley Kubrick verfilmt]. Vladimir Nabokov erzählt ja die Geschichte aus
der Sicht des Mannes (Humbert Humbert). Genau das wollten wir nicht.
Es ging immer um sie, um Melanie. Wir haben versucht, bei ihrer
Perspektive zu bleiben, bei ihrer Liebe. Sie kommt an diesen Ort, der
eigentlich wie ein Gefängnis organisiert ist, versucht ihre
Schüchternheit zu überwinden, Freundschaften zu knüpfen und
verliebt sich. Und sie will diese Verliebtheit auch leben, wurscht,
ob das ein Tabu sein könnte oder ob das angesagt ist. Ihr ist die
Altersfrage auch egal. Der Arzt wird mit ihrer unschuldigen Liebe
konfrontiert. Er kann damit eigentlich gar nicht umgehen. Deshalb
haben wir ein wenig mit dieser Männerfigur gerungen. Und wir haben
uns zum Schluss auch im Schnitt länger damit befasst, weil wir dann
gesehen haben, dass wir zu viel mit ihm beschäftigt waren und uns zu
viel in seine Perspektive hineinbegeben hatten. Wir haben dann beim
Schnitt darauf geschaut, dass das wieder zurückgenommen wurde. Das
Wichtigste für uns war: Sie sollte kein Opfer sein.
Wie war die Arbeit mit Melanie
Lenz?
Mit dem Arbeitsprozess und während der
Dreharbeiten verändern sich natürlich ganz viele Dinge. Melanie
war/ist auch so schüchtern wie die von ihr dargestellte Figur, und
sie hat oft gesagt: „Das kann ich nicht“. Als es um die
Schlussszene am
Telefon ging, hat sie auch gesagt, dass sie vor der Kamera nicht
weinen kann. [In dieser Szene hat ihr der Arzt klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn in Ruhe lassen soll. Sie versucht weinend ihre Mutter anzurufen, die aber nicht erreichbar ist, weil sie in Kenia urlaubt.] Da habe ich erwidert: „Schau Melanie, wir probieren
das jetzt und du machst es so gut, wie du es im Moment kannst. Und es
wird passen.“ Und wie man sieht: Es hat funktioniert. Sie hat ihre
Erfahrungen während der Arbeit am Film genützt und geht am Schluss
aus sich heraus.
Die Jugendlichen sind im Camp wie
in ein Gefängnis gesperrt. Sie suchen aber immer nach Auswegen und
haben, so absurd das scheinen mag, auch ihren Spaß.
Ja, es gibt auf der einen Seite diese
Jugendlichenleben im Untergrund, und dem gegenüber steht das
Erwachsenenleben. Die Erwachsenen sanktionieren immer wieder das
ausgelassene Treiben der Mädchen, aber sehr oft wissen sie gar
nicht, was zwischen den Jugendlichen abläuft. Genau diese eigene,
verborgene Welt der Jugendlichen wollten wir abbilden. Auf der einen
Seite sind es die Erwachsenen, die versuchen, Regeln aufzustellen und
dieses Gefängnis „Diätcamp“ zu überwachen, und auf der anderen
Seite stehen die Jugendlichen für die Subversion. Da nutzt alle
Überwachung gar nichts, weil die Kraft zum Ausbruch, die Kraft der
Jugend, die Kraft zur Rebellion letztendlich stärker ist.
Melanie sucht die Freiheiten, die es gibt, und sie findet sie
auch.
Sie hat aber auch Glück. Als
einmal die Situation zu eskalieren droht, passiert ihr nichts, d.h.
die Katastrophe findet im Gegensatz zu den anderen beiden Teilen der
Trilogie nicht statt.
So gesehen ist „Paradies:
Hoffnung“ der „un-seidlschte“ von allen drei Teilen.
Habt ihr in einem richtigen
Diätcamp gedreht?
Nein, aber wir haben ein richtiges
Diätcamp veranstaltet. Ich habe das Ganze auch organisiert.
Wir haben die Kinder im Rahmen der
Dreharbeiten für ein mehrwöchiges Camp dagehabt. Wir haben sie
sportlich beschäftigt, haben auf die Ernährung geachtet. Wir haben
versucht, ihnen ein gesünderes Leben mit Sport und Spaß zu
vermitteln. Dann haben wir sie zum Drehen geholt und zwischen den
Jugendlichen hat sich wie von selber ein vertrautes Verhältnis
aufgebaut. Die Mädchen, also Melanie, Verena (Lehbauer) und Hanni
(Johanna Schmid) kannten sich vom Casting.
Ich war die ganzen Dreharbeiten über
immer dabei. Es war für Melanie Lenz trotz der enormen
Herausforderung eine Befreiung, andere Szenen spielen zu dürfen, als
immer nur in den Turnsaal gesteckt zu werden. Die Jugendlichen haben
unter anderem zwanzig Minuten lang an einer Schokolade lutschen
müssen, von daher waren sie über die Szenen froh, in denen sie
einfach nur Party machen durften. Das war einer der schönsten
Drehtage. Aber natürlich bedarf es dafür eines gewissen
Vertrauensverhältnisses untereinander.
Verena ist aber auch eine
ziemlich starke Figur.
Ursprünglich war Verena lange für die
Hauptrolle im Gespräch. Das hat sie auch gewusst, aber sie hatte
kein Problem damit, als sie dann als Gegenpart eingesetzt wurde.
Andere steigen aus, wenn sie nicht, wie vorgesehen, die Hauptrolle
kriegen. Verena ist geblieben und ich war sehr von der Reife der
jungen Darstellerinnen beeindruckt. Das verkörpern sie auch im Film.
Die meisten der Mitwirkenden sind bis heute befreundet geblieben.
Wie wurde der Sporttrainer im
Diätcamp (Michael Thomas) von den jungen Schauspielerinnen
wahrgenommen?
Am Anfang haben sich die Mädchen am
Set tatsächlich vor ihm gefürchtet. Dann sind sie mit der Zeit
draufgekommen, dass er ja gar nicht so ist. Das wird aber im Laufe
des Films auch spürbar. Er hatte zuerst die Vorstellung, dass er die
Rolle ein wenig militärisch anlegen muss. Er hat aber seinen
Charakter immer auf Distanz gehalten. Dadurch lässt er immer wieder
durchscheinen, dass er die Jugendlichen mag und auch ein Herz für
sie hat.
Wie hat das Zusammenspiel
zwischen Melanie Lenz und dem Schauspieler Joseph Lorenz
funktioniert?
Eigentlich war Melanie ein totaler
Glücksfall, weil sie sich emotional voll und ganz auf ihre Rolle
einlassen konnte und ihre Gefühle total rauslassen kann. In Wahrheit
hat die Rolle des Arztes nicht einen so großen Part im Film, weil
die Geschichte ja von ihr aus erzählt wird und er musste eher
reagieren.
Warum bleibt er Melanie gegenüber
letztendlich so zurückhaltend? Ihre Gefühle ihm gegenüber sind ihm
ja nicht wirklich egal. Muss er seinen Status aufrechterhalten?
Fürchtet er sich vor etwas?
Könnte sein, aber er ist eine Figur,
die immer die Regeln im Kopf hat. Er ist zwar schon immer wieder
verführt, aber ist auch ein Mann, der sich auf das genau nicht mehr
einlassen kann. Er glaubt nicht mehr an die Unschuld und an die
Unbedingtheit der Liebe, so wie sie den Jugendlichen/Melanie
vorbehalten ist. Während die Liebe einfach so über Melanie
hereinbricht, kann er gar nicht anders, als davor zurückweichen.
Wie kam es zu der Szene im Wald,
die märchenhafte Elemente in sich trägt und die auf der bildlichen
Ebene eindeutig mit Melanies Mutter unter dem Moskitonetz in Afrika
korrespondiert?
Freut mich, dass es dir aufgefallen
ist. Im Drehbuch war diese Szene – eine meiner Lieblingsszenen
übrigens – als Schluss angedacht gewesen. Letztendlich bin ich
aber froh, dass es nicht so ausgegangen ist, weil wir im Schneideraum
entschieden haben, dass der Film mit diesem Titel und einer tollen
Hauptdarstellerin nicht auf diese Weise enden kann. Ich wollte auch
nicht, dass das Ganze mit einer bewusstlosen Melanie aufhört. Sie
ist eine, die dauernd Entscheidungen trifft, die für etwas kämpft
und etwas geben will. Die kann ich doch nicht bewusstlos
liegenlassen. Sie geht als aktive und handelnde Person und vor allem
unbeschadet aus dem Ganzen hervor. Es ist auch ein wenig eine
Reminiszenz an die Maria Hofstädter-Figur in „Hundstage“,
die zum Schluss wieder ins Licht hüpft und nicht als
vergewaltigtes Opfer liegengelassen wird. Das hätte sich im Fall von
Melanie nicht richtig angefühlt, obwohl im Drehbuch die Szene auf
Gefahr und Erotik durch Macht und Ohnmacht auf eine ausweglose
Situation ausgerichtet war. Das hat dem Ende gut getan, weil Melanie
möglicherweise andere Wege gehen wird als ihre Mutter und die
religiöse Tante. Sie hat das ganze Leben noch vor sich.
„Paradies: Hoffnung“ wurde
bei der Berlinale 2013 gezeigt und läuft als Eröffnungsfilm bei der
diesjährigen Diagonale in Graz.
„Kern“ startet am
27.2. im Filmcasino/Wien.
Veronika Franz begann ihre
berufliche Laufbahn als Gerichtsreporterin für die APA und schreibt
heute Filmkritiken für die Tageszeitung „Kurier“. Seit „Bilder
einer Ausstellung“ (A 1996/TV) arbeitet sie mit Ulrich
Seidl als Co-Autorin, Regieassistentin und für das Casting. Als
Regisseurin debütierte sie 2011 gemeinsam mit Severin Fiala mit dem
Dokumentarfilm „Kern“. Derzeit arbeitet sie
mit Fiala an einem neuen Film.
Elisabeth Streit ist Bibliothekarin
im Österreichischen Filmmuseum und Obfrau von Kinoki/Verein für
audiovisuelle Selbstbestimmung.
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"Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen." Michel Foucault