[Anmerkungen von Tina Leisch zu: EINMAL MEHR ALS NUR REDEN, Anna Katharina Wohlgenannt, Österreich/Nicaragua 2010, 72min.]
„Heute feiern die Hebammen aus den Dörfern und Bergen von Estelí in
Nicaragua, in der Nähe der Grenze. Sie haben sich versammelt, um etwas
zu feiern, das wahrhaft der Freude würdig ist: seit einem Jahr ist kein
einziges Neugeborenes dieser Region mehr an Tetanus gestorben. Die
Hebammen durchtrennen die Nabelschnur nicht mehr mit der Machete,
brennen sie nicht mehr mit Talg ab und binden sie nicht mehr ab ohne sie
zu desinfizieren. Die Schwangeren werden geimpft. Hier glaubt niemand
mehr, dass die Impfungen russische Zaubermittel seien, um Christen in
Kommunisten zu verhexen; und keiner - oder fast keiner - glaubt mehr,
dass die Neugeborenen am bösen Blick eines Betrunkenen oder einer
Menstruierenden sterben. Aber dieses Gebiet ist Kriegszone, man lebt im
Maul des Untiers und leidet unter den ständigen Angriffen der Invasoren:
Viele Mütter beteiligen sich an den Kämpfen. Die Mütter, die nicht
kämpfen, stillen die Kinder der Kämpferinnen mit.“ So lautet der
Eintrag, den Eduardo Galeano in seiner Chronik Lateinamerikas
„Erinnerung an das Feuer“ für das Jahr 1984 vermerkt.
Während die US-Regierung durch Contrasöldner den wichtigsten
nicaraguanischen Pazifikhafen Corinto verminen ließ, packten in
Österreich fünfzig Leute die Rucksäcke um sich als „Brigade Februar ’34“
zur Unterstützung der sandinistischen Revolution in den Süden
Nicaraguas aufzumachen. Engagierte aus ganz Österreich, Autonome und
Alternative, Sozialisten, KommunistInnen und linke ChristInnen bauten
dort ein Gemeinschaftshaus für die Arbeitersiedlung einer
Palmenplantage.
Die junge Wiener Filmemacherin Anna Katharina Wohlgenannt hat sich auf
die Suche nach den ehemaligen BrigadistInnen gemacht, um sie 25 Jahre
später noch einmal über dieses fast vergessene Kapitel der Geschichte
der internationalen Solidarität zu befragen.
Was bedeutete es, lang vor der Globalisierung, als Mittelamerika noch
viel weiter als nur einen Mausklick entfernt war, in ein Kriegsgebiet zu
fahren, dort zwei Wochen lang den Arbeitsalltag und den mageren
Speiseplan der ärmeren Zweidrittel der Weltbevölkerung zu teilen, ihren
Durchfall, ihre von Gefechten mit den Contras erschütterten Nächte und
ihre Entschlossenheit, dem ‚Feind des Friedens und der Demokratie’,
Ronald Reagan, die Stirne zu bieten?
Für Gabriele Stoiber aus Braunau war es ein Grundkurs in
Befreiungstheologie. „Hier habe ich mitgekriegt, man muss untertänig und
brav sein damit wirs dann im Jenseits schön haben, und dort hieß es:
Die Bibel sagt, wir sollen jetzt für das Glück im Diesseits für alle
kämpfen.“ Auch den Linzer Pfarrer Hans Wührer bestärkte die
nicaraguanische Erfahrung und insbesondere die Begegnung mit dem Dichter
und Befreiungstheologen Ernesto Cardenal darin, gegen alle Drohungen
und Widerstände weiterhin innerhalb der katholischen Kirche
fortschrittliches, gesellschaftlich verantwortliches Christentum zu
predigen. Andre traten aus der Kirche aus, als der Papst beim
Nicaraguabesuch sich von Ernesto Cardenal demonstrativ nicht die Hand
küssen ließ.
Vielen ging es wie Ilse Stockhammer-Wagner, die als Sympathisantin einer
maoistischen Gruppe in Klagenfurt Demonstrationen mit fünf bis sieben
DemonstrantInnen gewohnt war: man stand auf einmal fassungslos und
euphorisch bei der Revolutionsfeier in Managua mit Hunderttausenden
Menschen zusammen, die alle hoch politisiert, rebellisch und solidarisch
waren, Eigenschaften, deren eklatanter Mangel bei der österreichischen
Bevölkerung die politische Arbeit daheim so zäh und mühsam machte.
Für alle BrigadistInnen scheint es eine nachhaltige interkulturelle
Begegnung, eine Schulung in differenziertem internationalistischem
Denken gewesen zu sein, was ihre Erinnerungen heute nicht nur als
Anmerkungen zur Sandinistischen Revolution interessant macht. Keine und
keiner der ProtagonistInnen schwelgt in Veteranenerinnerungen oder
Revolutionsromantik. Wohlgenannt konzentriert ihr Interesse auf die
schwierigen Fragen, denen man sich stellen musste, wenn die Regeln des
linken Katechismus mit der Wirklichkeit eines belagerten Landes in
Widerspruch gerieten.
Wenn ökologisch gut geschulte Brigaden an der Errichtung einer
Palmenmonokultur mitwirken, gilt die Entschuldigung, dass Nicaragua
dringendere Probleme hat, als europäische Ökos? Kann man guten Gewissens
mit anschauen, wie so die Ökologie zum Luxusartikel erklärt wird?
Fällt man nicht den ArbeiterInnen in den Rücken, wenn man aus
Solidarität Arbeitsbedingungen akzeptiert, auf die sich einzulassen die
in den Jahrzehnten der Somozadiktaturen maltraitierten Einheimischen
endgültig nicht mehr bereit sind?
Verlangt internationale Solidarität, sich überall, wo man ist, mit
allen Mitteln für die Revolution einzusetzen, oder darf man sich
revolutionären Kämpfen nur im eigenen Land daheim anschließen?
Wissen wir EuropäerInnen wirklich so viel besser, wie die Welt
funktioniert und wie sie funktionieren soll und sind wir wirklich so
überheblich unser Wissen den armen NicaraguanerInnen als Wahrheit zu
vermitteln?
Esche Schörghofer, der heute einen Bioladen betreibt, schreibt die
Besserwisserei einem leninistischen Kaderdenken zu, dem er damals
angehangen habe. Politisch-avantgardistisches Sendungsbewußtsein ist
aber wohl nur die linksgefärbte Variante eines grundsätzlich
überheblichen neokolonialen Bewusstseinszustandes, der ja hierzulande
leider bis heute weit verbreiteter Common sense ist, der aber bei den
BrigadistInnen durch die Begegnung mit den Sandinisten nachhaltig
zerrüttet wurde.
Obwohl die Österreicherinnen vielleicht mehr von Architektur verstanden
als ihre Gastgeber und seit ihrem Einsatz in Rio San Juan
Arbeitersiedlungen mit Otto-Wagner-Geländern gebaut werden, traten sie
doch in vieler Sicht den Einheimischen als Unterlegene, als Lernende,
als Bewundernde entgegen: die NicaraguanerInnen waren ProtagonistInnen
einer erfolgreichen Revolution, sie hatten nicht nur Somoza gestürzt,
sondern innerhalb weniger Jahre bedeutende gesellschaftliche
Veränderungen durchgesetzt.
In dem Kurzfilm „Sandino vive“ mit dem Ilse Stockhammer-Wagner und der
2009 verstorbene Philosoph Helmut Stockhammer die Erlebnisse der Brigade
dokumentiert hatten, fand Anna Katharina Wohlgenannt einige sehr
nachdrückliche Szenen, die paradigmatisch diese bedeutsame Verschiebung
im Verhältnis zwischen Erste-Weltler und Dritte-Weltler bebildern:
Brigadist: „Warst du während der Revolution in Managua?“
Sandinist: „Ich habe seit 1978 für die Befreiung gekämpft.“
Brigadist: „Mit Waffen?“
Sandinist: „Ja, mit Waffen. In Managua.“
Brigadist zur Brigadistin: „Er war sozusagen Stadtguerillero, er hat in Managua gekämpft mit der Waffe.“
Der Sandinist zeigt die Schussverletzungen an Kopf und Arm, die er sich
im Kampfe zugezogen hat und die in den Augen der Europäer seine
Metamorphose vom unterentwickelten Eingeborenen zum revolutionären
Helden bewirken.
„Das kolonisierte ‚Ding’ wird Mensch gerade durch den Prozess, durch
den es sich befreit.“ schrieb Frantz Fanon, der sich sicher war, dass
der Prozess der Dekolonisation notwendig ein gewaltsamer sein muss,
einerseits, weil die restlose Zerstörung der kolonialen Verfassung der
Welt anders nicht möglich sei und andererseits, weil psychologisch die
Kolonisierten nur mithilfe von revolutionäre Gewalt sich von den
Minderwertigkeitskomplexen der Kolonialisierung entgiften können.
Diese revolutionäre Gewalt kam aber in Nicaragua nur in der dringendst
notwendigen Dosierung zur Anwendung. „Das war ja eine Blumenrevolution.
Ohne jede Rache. Die gefangenen Contras wurden als Menschen behandelt.
Todesstrafe gab es nicht.“ erinnert sich der Maurer und Kommunist
Matthias Horvath, der noch Jahre nach der Rückkehr nach Österreich
Spenden für die Nicas sammelte. „Unter Kugeln und Granatsplittern
gewinnt nur der sanfte Mut“ sangen die Sandinisten am Lagerfeuer.
„Die Stimmung war angstfrei, die Leute atmeten auf. Es wurden ja von den
Sandinisten eine Menge neuer Gesetze verabschiedet, die z.B.
Mindestlohn und Mindesturlaub garantierten, die Enteignungen des
somozistischen Großgrundbesitzes vornahmen. Es wurde gratis
Gesundheitsversorgung und Bildungsprogramme organisiert, wie es sie
heute noch in den meisten Ländern Lateinamerikas nicht gibt. Es ist den
Sandinisten gelungen, schnell die Lebenssituation von vielen der ärmsten
Menschen zu verbessern.“ So entkräftet Herbert Sburny, langjähriger
Leiter des Kulturzentrum Amerlinghaus in Wien, die zeitgenössischen
Legenden vom totalitären Regime der Sandinisten, mit dem die Apologeten
der US-Politik in ÖVP und CDU sich in die Wortgefechte der letzten
Etappe des Kalten Krieges warfen, von Anna Katharina Wohlgenannt sehr
schön mit CLUB-2 -Ausschnitten belegt.
Die Solidaritätsbewegung verfiel in Trauer, als 1990, nach fast 30.000
Toten im Contrakrieg die nicaraguanische Bevölkerung ihre sandinistische
Revolution wieder abwählte: Nur ein Sieg der den USA genehmen
Kandidatin Violeta Chamorro garantierte ein Ende des Krieges.
Manche Nicaraguafans verwarfen daraufhin den Traum von der
Weltrevolution, andre vertagten ihn. Im Bioladen oder Weltladen, als
Architektin, Therapeutin oder entwicklungspolitischer Publizist würzen
die BrigadistInnen seither den österreichischen Alltag mit einer
wohltuenden Portion „universal mind“.
Wohlgenannt ist so eine Art filmischer Bildungsroman einer Generation
von sehr bescheidenen und sehr reflektierten linken WeltverbessererInnen
gelungen, die viel mehr, als sie wohl selber es wissen, dazu beitragen,
dass es ein bisserl erträglicher ist auf der Welt. Oder zumindest in
Österreich. Man ist versucht, allen Zwanzigjährigen zu raten, ein paar
Wochen als Freiwillige Dienst in einer anti(neo)kolonialen
Befreiungsbewegung zu tun, als bestmögliche Humanismusschulung.
Wer das verpasst hat: „Einmal mehr als nur Reden“ ermöglicht wenigstens
einen 72 minütigen Crashkurs in „Zärtlichkeit der Völker“ wie Graffiti
die internationale Solidarität in den Achtziger Jahren nannten.
Tina Leisch, Film-,Text- und Theaterarbeiterin in Wien.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
"Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen." Michel Foucault